Übersetzt aus dem englischen Original von Diana Spechler, New York Times.
Im Herbst 2014 beschloss die Autorin Diana Spechler ihre psychiatrischen Medikamente, die sie gegen Ängste, Depressionen und Schlaflosigkeit eingenommen hatte, abzusetzen. Sie begann schrittweise auszuschleichen und verfasste die Serie Going Off, welche in der New York Times erschienen ist:
Darin beschreibt sie all die Ängste und Schwierigkeiten, die mit den Medikamenten und dem Absetzen dieser verbunden waren.
Der folgende Artikel ist ihr Resümee.
Psychopharmaka absetzen: 10 Dinge, die ich mir selbst im Nachhinein raten würde
Warne deine Freunde und deine Familie vor, dass du deine Medikamente ausschleichen wirst (Anmerkung von Moni: Ausschleichen bedeutet langsames, schrittweises Reduzieren der Dosis).
Bitte sie darum, dich darauf anzusprechen, wenn du niedergeschlagen wirkst; du wirst nicht böse auf sie sein.
Früher wärst du das gewesen.
Du hast immer gedacht, depressiv zu sein würde bedeuten, schwach zu sein; besorgte Anmerkungen hast du als Beschuldigung für deine eigene Schwäche interpretiert.
Doch nun ist es an der Zeit, das zu ändern.
Lass deine Haut nicht dicker, sondern durchlässiger werden, damit Liebe durchsickern kann.
Lass zu, dass deine Freunde dich unangekündigt und spontan besuchen, um sicher zu gehen, dass du nicht die letzten drei Tage in deinem blauen Bademantel verbracht hast.
Du musst deine Medikamente eventuell langsamer ausschleichen, als dein Arzt es dir empfohlen hat.
Setze immer nur ein Medikament nach dem anderen ab, alle paar Wochen nur eine kleine Dosis davon.
Sei behutsam.
Wenn du dir zum Beispiel vorgenommen hast, die Dosis deines Benzodiazepins (Beruhigungsmittels) am Freitagabend zu verringern, du aber merkst, dass du immer noch Absetzsymptome von dem vorherigen Reduktionsschritt hast, dann bleib bei deiner ursprünglichen Dosis und warte noch ein bisschen ab.
Du hast am Montag immer noch die Möglichkeit, weiter zu reduzieren. Oder nächsten Montag. Oder auch übernächsten.
Bei dir wird es ganze sieben Monate dauern, um alle drei Medikamente abzusetzen (Anmerkung von Moni: Diana beschreibt hier ihren persönlichen Verlauf, das Tempo ist bei jedem Menschen individuell) und das ist okay.
Wenn es dir während dem Ausschleichen schlecht geht, kannst du immer wieder einen Schritt zurück gehen und ein wenig aufdosieren.
Tu das, wenn es dir dabei hilft, den Tag zu überstehen ohne dich im Badezimmer verstecken zu müssen.
Dein Ziel sollte sein, dass es dir gut geht und nicht, dass du schnell beweisen kannst, ohne Medikamente auszukommen.
Nach jedem Reduktionsschritt wirst du zwei oder drei Tage lang schreckliche Symptome erleiden: Schwindel, Übelkeit, Panikattacken, Kopfschmerzen, Weinanfälle und andere seltsame Beschwerden wie Zahnschmerzen.
Manche Personen leiden auch monatelang unter diesen extremen Zuständen.
Einige halten die Absetzsymptome nicht aus und müssen bei ihrem Medikament bleiben.
Du gehörst nicht dazu: Deine Zahnschmerzen werden verschwinden.
Deine Panik wird weichen.
Du wirst nicht einmal ohnmächtig werden oder dich übergeben müssen.
Kümmere dich um deine Ernährung.
Alkohol unterdrückt den REM-Schlaf (englisch für Rapid Eye Movement: Durch schnelle Augenbewegungen gekennzeichneter Schlaf; Tiefschlaf-Phasen werden mit körperlicher Regeneration in Verbindung gebracht, REM-Schlaf hingegen mit psychischer Erholung).
Es ist wichtig, das zu erwähnen.
Transfette und Zucker sorgen für Stimmungsschwankungen – erinnerst du dich, wie du in der U-Bahn geweint hast, weil jemand unabsichtlich seinen Rucksack in dein Gesicht geschmettert hat?
Doch wenn du es einfach nicht schaffst, deine Ernährung umzustellen, kauf dir hin und wieder eine große Packung Fast Food, setz dich vor den Fernseher und genieße.
Verzeih dir deinen Hedonismus.
Verzeih dir einfach alles.
Finde eine Person, die du mitten in der Nacht anrufen kannst.
Du wirst einen Vorteil darin erkennen, dass deine beste Freundin in Kalifornien wohnt: Wenn es bei dir Nacht ist, ist es bei ihr erst Abend. Ihre Stimme zu hören wird sich für dich anfühlen, wie der erste tiefe Atemzug, den du seit Stunden machen konntest.
Wenn du nachts niemanden anrufen kannst (oder willst), lade dir Hypnose- und Meditationseinheiten zum Entspannen herunter.
Wenn das nicht funktioniert, mach etwas anderes.
Lies das Buch, das du seit acht Monaten lesen wolltest.
Borge dir von jemandem ein HBO-Passwort aus (hier geht es um einen Anbieter wie Netflix zum Serien schauen).
Lerne mit Hilfe deines Handys Spanisch.
Experten sagen, dass man bei Schlaflosigkeit elektronische Geräte vermeiden sollte.
Vergiss das.
Was man vermeiden sollte ist, dass Panik aufkommt.
Was du dir selbst beibringen solltest: Ich verdiene etwas Besseres, als alleine in einem dunklen Raum wach zu liegen und mir schreckliche Dinge vorzustellen.
Kümmere dich gut um die Einteilung deiner Freizeit.
Verschwende deine kostbare Zeit nicht mit Menschen, die du nur alle drei Monate auf einen Kaffee triffst und die dir keine einzige Frage stellen – solche, die über nichts anderes als ihre eigenen Themen sprechen. Sag einer solchen Person, dass du eine Koffeinunverträglichkeit entwickelt hast.
Du brauchst Zeit zum Heilen.
Dies ist kein guter Zeitpunkt für eine Trennung.
Falls du dich in dieser Zeit doch von deinem Partner trennst, vergiss nicht, dass du das überstehen wirst.
Hör auf, Listen in deinem Kopf durch zu gehen, was du hättest besser machen können.
Nein, du hättest nicht deine ganze Persönlichkeit ändern können.
Nein, du bist nicht zu anspruchsvoll.
Und selbst wenn du anspruchsvoll und schwierig bist, was solls? Sei schwierig.
Du bist ein Mensch und keine Zusammenstellung perfekter Qualitäten.
Wenn du merkst, dass du dir nur Vorwürfe machst, schreib sie nieder.
Das ist die einzige Möglichkeit, sie aus deinem Kopf zu bekommen – der leere Zettel hält das aus.
Wenn du in den frühen Morgenstunden so dasitzen und schreiben wirst, wird alles in Ordnung sein – dein Kaffee wird fertig und deine Wirbelsäule aufgerichtet sein.
Du wirst zu dir selbst zurückkehren.
Dein Partner war nicht dein Antidepressivum. Verachte ihn nicht. Er ist auch nur ein Mensch und hat dir gegeben, was er konnte.
Jeder hat eine Meinung zum Thema Depression.
Jeder hat eine Meinung über Psychopharmaka.
Wenn du jemandem sagst, dass du solche Medikamente einnimmst (oder absetzen willst), werden dir einige ihre Meinung aufdrängen wollen.
Diese Reaktionen haben wenig mit dir persönlich zu tun.
Wir leben in einer Gesellschaft, in der psychische Gesundheit ein angespanntes und belastendes Thema ist.
Einer Gesellschaft, in der wir kaum frei darüber sprechen können, ohne uns Sorgen machen zu müssen, was andere über uns denken werden.
Lass die anderen reden. Sie müssen reden.
Hab keine Angst davor.
Du hast ein Recht darauf, deine persönlichen Erfahrungen zu erzählen.
Vielleicht ist es nicht nur dein Recht, sondern deine Pflicht das zu tun – um diese kollektive Scham mit deinen klaren und ehrlichen Worten zu bekämpfen.
Die Zeit wird kommen, wo du nicht mehr benommen und voller Furcht aufwachen wirst, sondern begeistert, weil die Sonne scheint.
Es wird Sommer sein, deine liebste Jahreszeit.
Du wirst medikamentenfrei sein, dich vollwertig ernähren, in die Welt zurückkehren und dabei eine Yogamatte um deine Schulter hängen haben.
Kannst du das glauben? Du wirst diese Person mit der Yogamatte um die Schulter sein!
Du wirst dich selbst wiederfinden.
Du wirst die Person wiederfinden, die du unter all den Bandagen fast vergessen hättest. Bevor du die Bandagen abnimmst, wirst du unsicher sein, ob die Haut darunter schon verheilt ist.
Aber du wirst Glück haben: Du bist geheilt. Du bist zurück.
Du wirst wieder die Person sein, die barfuß geht. Die Person, die Konzerte genauso wenig aushält, wie den Saint Mark’s Place.
Die Person, die sich wünscht, sie hätte keine Augenringe und die sich gerne weniger Gedanken um ihre Augenringe machen würde.
Die Person, die vor Aufregung sichtbar zittert, wenn sie einer spannenden Persönlichkeit begegnet und die nicht aufhören kann, U-Bahn Tänzer anzulächeln, obwohl man als waschechter New Yorker U-Bahn Tänzer hassen sollte.
Begrüße diese Person. Sie hat lange gefehlt.
Sie war depressiv und hat sich anschließend von der Depression erholen müssen. Sie klebte an ihren Möbeln fest, zählte Kalorien und war schockiert, als ihr die Haare ausfielen.
Sie zog ihre Vorhänge zu.
Lass deine Gefühle der Dankbarkeit raus: Dankbarkeit für alles und jeden, für die Tatsache, dass Menschen andere Menschen brauchen, für die Art, wie manche Menschen Blickkontakt meiden und andere ihre Arme für eine Umarmung öffnen.
Geh nach draußen. Spür die Unterseite deiner Füße.
Und ehe du dich versiehst, wird noch mehr Zeit vergangen sein, in der du keine Medikamente mehr einnimmst. Vielleicht wird es Winter sein, vielleicht wirst du den Yogaunterricht eine Woche lang ausfallen lassen, zwei Stunden lang weinen oder zu viel Bier trinken – und doch wirst du okay sein.
So ist das Leben. Du lässt los.
Ressourcen zum risikoarmen Absetzen von Psychopharmaka
Der Text von Diana Spechler beschreibt eine von vielen individuellen Erfolgsgeschichten. Ganz allgemein möchte ich euch noch ein paar Ratschläge zum risikoarmen Absetzen von Psychopharmaka geben.
Die Entscheidung, Medikamente abzusetzen (oder es nicht zu tun), sollte jeder für sich selbst treffen.
Meine Meinung zu diesem Thema könnt ihr hier nachlesen: Psychopharmaka – gut oder böse?
Leitfaden zum risikoarmen Absetzen von Psychopharmaka
Auf dieser Seite (unter der Überschrift Translations) findest du einen kostenfreien Leitfaden zum Herunterladen.
Er steht in den Sprachen Deutsch, Englisch, Spanisch, Griechisch, Bosnisch, Kroatisch, Japanisch, Italienisch, Französisch, Norwegisch und Tschechisch zur Verfügung.
Vorbereitung ist das Wichtigste
Die Psychiaterin Dr. Brogan arbeitet sehr intensiv mit Patienten zusammen, die Psychopharmaka absetzen wollen.
Bevor sie mit dem langsamen Absetzen beginnt, bereitet sie den Körper ihrer Patienten individuell auf diesen Prozess vor.
Das bedeutet konkret: Sie untersucht messbare Werte auf unentdeckte Lebensmittelunverträglichkeiten, Hormonschwankungen und andere gesundheitliche Probleme, sie empfiehlt ihren Patienten eine drastische Umstellung der Ernährung (eine Zeit lang weder Zucker, noch glutenhaltige Produkte, Milchprodukte oder Soja zu konsumieren), sie gleicht – wenn nötig – Vitamin- und Nährstoffmängel aus, und leitet ihre Patienten dazu an, Entspannungsübungen in den Alltag einzuführen und eine gesunde Lebensweise zu praktizieren.
Erst nachdem all das abgeklärt, ausgeglichen und in den Alltag integriert wurde, startet sie zusammen mit den Patienten den Absetzprozess.
Eine Frage, die immer im Raum steht ist: Was hat ursprünglich zu der psychischen Krise geführt und wie können wir jetzt damit umgehen?
Schreiben
In diesem Video (englisch, 6 Ways To Prepare For Antidepressant Withdrawal) beschreibt eine betroffene Person, wie wichtig die persönliche und mentale Vorbereitung vor dem Absetzen von Psychopharmaka ist.
Wieso möchtest du das Medikament absetzen?
Wie möchtest du leben?
Was sind deine Ziele, auf die du dich in schweren Zeiten fokussieren kannst, um besser durchhalten zu können?
Bei schweren Absetzsymptomen (welche oft wellenartig beziehungsweise phasenweise auftreten) ist es ratsam, ein Tagebuch zu führen, um kleine Besserungen wahrzunehmen und sich bei Rückschritten daran erinnern zu können, wie weit man schon gekommen ist und dass es bereits bessere Phasen gab.
Das Buch, welches im Video erwähnt wird, findest du hier (englisch): The Antidepressant Solution: A Step-by-Step Guide to Safely Overcoming Antidepressant Withdrawal, Dependence, and Addiction von M.D. Joseph Glenmullen.
Ganz allgemein gilt:
Langsam vorzugehen, auf sich zu hören (jeder Mensch ist anders, so auch jeder Absetzverlauf) und um Hilfe oder Unterstützung im Alltag zu bitten (Familie, Freunde oder Experten im Gesundheitsbereich).
Wie ihr seht, gibt es im englischsprachigen Raum bereits zahlreiche Ressourcen.
Ich überlege mir, ein E-Book zu schreiben, um euch all diese Informationen auf Deutsch zur Verfügung stellen zu können.
Gibt es von eurer Seite aus Interesse daran?
An welchen Faktoren/ Themen seid ihr besonders interessiert?
Ich freue mich über Rückmeldungen in Form von Kommentaren oder persönlichen E-Mails.
Vielen Dank für diese interessante Seite, die m.E. wichtige Informationen über ein wenig bekanntes Thema enthält: den Problemen, den man beim Absetzen von Psychopharmaka haben kann. Das betrifft übrigens nicht nur Menschen mit psychiatrischen Diagnosen, sondern auch Schmerzpatienten. Ich selbst bin Migränikerin und habe Probleme mit dem Absetzen meiner Prophylaxe, dem AD Doxepin, auch wenn mir praktisch alle Ärzte sagen, dass das nicht sein kann. Hilfe gefunden habe ich im hier bereits erwähnten Forum http://www.adfd.org.
Ich werde hier auf jeden Fall regelmäßig reinsehen und hoffe, dass die Seite vielen Betroffenen hilft.
Liebe/r Kimeta! Schön, dass du mir schreibst und deine Erfahrungen mit den Lesern teilst! Das finde ich besonders erschreckend: Dass viele „Schmerzpatienten“ oder PMS-geplagte Frauen Antidepressiva bekommen und beim Absetzen davon berichten, zum ersten Mal im Leben mit Depressionen und Ängsten zu tun haben. Denn dann hat man ein Problem mehr und muss sehr stark sein und Geduld aufbringen, um seine Balance zurück zu gewinnen. Mittlerweile werden bei chronischen Schmerzen auch Yoga, psychologische Entspannungsverfahren, genauso wie Meditation und Hypnose empfohlen. Meinst du das sind gute Alternativen? Ich persönlich hatte in der Vergangenheit auch mit Migräne zu kämpfen. Was mir geholfen hat, war das Absetzen der Antibaby-Pille, die Behandlung meines Eisenmangels und der Verzicht auf ein Lebensmittel, das ich nicht vertragen habe. Lg, Moni
Hallo, ich bin schon seit längerem am recherchieren in diesem Themengebiet. Mich freut das du sehr professionell bleibst, das meiste was ich bisher auf deutschsprachigen Seiten gefunden habe bediente mehr die Extrema der Sichtweisen. Ich finde es sehr sehr gut das langsam Alternative Möglichkeiten aufgezeigt werden. Wenn ich richtig gelesen habe dann bist du vom Fach und falls du Zeit und Lust hast können wir ja korrespondieren ich überlege seit längerer Zeit meine Medikation abzusetzen, da Sie aus grauer Vorzeit stammt und ich mein Leben grundlegend verändert habe.
Hi Norman, gerne kannst du mir privat schreiben unter
Ich bin ausgebildete Psychologin und es ist mir sehr wichtig, bei diesem heiklen Thema neutral zu bleiben – Alternativen aufzuzeigen, zu informieren, aber jeder Person mit Verständnis die Wahl zu lassen, denn natürlich hat jeder Weg Vor- und Nachteile bzw. muss je nach Person und Situation individuell entschieden werden.
Lg Moni