Psychopharmaka Absetzsyndrom

Das sogenannte „Psychopharmaka Absetzsyndrom“ nach dem Gebrauch von psychotropen Substanzen ist ein wichtiges Thema meines Blogs.

Es ist leider etwas, was an den Universitäten noch nicht gelehrt wird.

Wie helfe ich Patienten, Psychopharmaka risikoarm abzusetzen?

Worauf muss ich als Betroffener achten?

Wie kann ich meinen Körper in dieser Zeit am besten unterstützen?

Was sollte ich in dieser Zeit vermeiden?

Was kann nach dem Absetzen passieren?

In der Vergangenheit wurde oft die Meinung vertreten, dass Probleme nach dem Absetzen von Psychopharmaka nicht länger als zwei Wochen anhalten können und sich auf „sanfte“ Symptome (wie Schwindel) beschränken würden.

Alles, was darüber hinausgeht, würde die Krankheit des Patienten darstellen, die wieder aufgeflammt ist bzw. so stark ausgeprägt ist, dass dieser Patient lebenslang Medikamente nehmen sollte.

Die Realität sieht anders aus.

Absetzsymptome beziehen sich auf zahlreiche körperliche, aber auch psychische Beschwerden.

Sie sind psychiatrischen Krankheitsbildern oft sehr ähnlich und werden ebenso oft als solche fehl-diagnostiziert.

Der Psychiater Dr. Peter Breggin kritisiert, dass in der psychiatrischen Ausbildung dringend „Absetzprogramme“ (samt Aufklärungsmaßnahmen) eingeführt werden sollten, um mit diesem Thema entsprechend umgehen zu können.

Manche Patienten leiden an schrecklichen Symptomen, wenn sie versuchen, diese Mittel abzusetzen – sowohl an Symptomen, die der Krankheit ähneln, als auch an vielen anderen, die sie zuvor nie gekannt haben.

Es ist überaus bedauerlich, dass fast alle Psychiater – und die Betroffenen – dies als Indiz dafür werten, dass die Patienten das Medikament immer noch brauchen.

Ich habe von Medizinstudenten gehört, die in ihrem Studium mit Schwierigkeiten kämpften und von ihrem Arzt Glückspillen bekommen, fast immer mit der falschen Begründung, ein chemisches Ungleichgewicht müsse beseitigt werden, ähnlich wie beim Diabetes.

Wenn die Studenten versuchen, das Medikament abzusetzen, und dann unter Absetzsymptomen leiden, sagt ihnen der Arzt, das Problem sei nicht das Absetzen, sondern die Krankheit sei zurückgekehrt und sie müssten die Pillen wahrscheinlich bis ans Ende ihres Lebens nehmen.”

(Peter C. Gøtzsche im Buch Tödliche Medizin)

Nicht aufgeben

Nicht aufgeben!

Trifft es jeden?

Zunächst muss aber betont werden, dass nicht jeder Mensch solche Absetzprobleme erleidet, im Gegenteil.

Das Gehirn ist so individuell wie ein Fingerabdruck.

Das ist der Grund, weshalb Krankheitsverläufe sowie Absetzverläufe so verschieden sind.

Ich habe einige Personen kennengelernt, die ihre Medikamente problemlos ausgeschlichen haben.

Es gibt also keinen Grund vom schlimmsten Szenario auszugehen und Angst zu haben.

Leider kann es aber passieren, dass man in diesem Zusammenhang Probleme bekommt, die sogar monate- oder jahrelang anhalten können.

Und Personen, denen das passiert, brauchen Unterstützung.

Bei vielen Betroffenen verschwinden diese Probleme von alleine wieder, selbst nach vielen Monaten – so plötzlich wie sie aufgetaucht sind. Ich habe unzählige Patientengeschichten gelesen und die Zeit hat oftmals wahre Wunder vollbracht.

 

Was passiert nach dem Absetzen?

In ihrem neuesten Artikel (05.02.2015) verweist die Psychiaterin Dr. Kelly Brogan auf eine Studie, in der die Dauer der Psychopharmakaeinnahme mit dem späteren Absetzverlauf in Zusammenhang gebracht wurde.

Personen, welche solche Medikamente kürzer als sechs Monate eingenommen haben, waren beim Absetzen mit 81% am Erfolgreichsten.

Bei einer Einnahmedauer von sechs Monaten bis zu fünf Jahren waren es knapp über 50% und bei einem Konsum von über fünf Jahren schafften es 44% erfolgreich abzusetzen.

Ich vermute, die Zahlen könnten noch besser aussehen, wenn es mehr Aufklärung zu diesem Thema gäbe und wenn Patienten während des Absetzens auf die richtige Art und Weise unterstützt werden würden, wie es beispielsweise Dr. Brogan in ihrer Praxis versucht.

Wenn Patienten nicht sofort vermittelt werden würde, sie seien „verrückt“, wenn sie nach (oder während) dem Absetzen dieser Medikamente unter Ängsten leiden, depressiv sind oder sich körperlich krank fühlen.

Wenn ihnen statt Hilflosigkeit, Mut gemacht werden würde.

Falls du dich während oder nach dem Absetzen einer psychotropen Substanz krank fühlst, folgt hier eine

Liste der möglichen Symptome eines Absetzsyndroms:

 

Psychische Symptome

… die einer Depression ähnlich sind

  • Weinerlichkeit, Weinkrämpfe
  • Verschlechterung der Stimmung
  • Kraftlosigkeit (Müdigkeit, Lethargie, Unwohlsein)
  • Konzentrationsstörungen
  • Einschlafprobleme, Schlaflosigkeit
  • Änderung des Appetits
  • Selbstmordgedanken

… die einer Angststörung ähnlich sind                               

  • Nervosität, Ängstlichkeit, Anspannung
  • Panikattacken (Herzrasen, Kurzatmigkeit)
  • Brustschmerzen
  • Zittern

Reizbarkeit und Aggressionen                   

  • Erhöhte Reizbarkeit
  • Agitation (Rastlosigkeit, Hyperaktivität)
  • Impulsivität
  • Aggressivität
  • Selbstverletzendes Verhalten
  • Mord/Gewaltphantasien, erhöhte Gewaltneigung

Verwirrung und Gedächtnisprobleme                   

  • Verwirrung oder kognitive Schwierigkeiten
  • Gedächtnisprobleme oder Vergesslichkeit

Stimmungsschwankungen                           

  • Hochstimmung
  • Stimmungsschwankungen
  • Manieartige Symptome

Halluzinationen                                

  • Akustische Halluzinationen
  • Optische Halluzinationen

andere

  • Dissoziation: Gefühl von Unwirklichkeit
  • Intensives Träumen und Albträume

 

Physische Symptome

… die einer Grippe ähnlich sind

  • Grippeartige Schmerzen
  • Fieber
  • Schweißausbrüche
  • Frösteln, Schüttelfrost
  • Laufende Nase
  • Brennende/tränende Augen

… die einer Magen-Darm-Entzündung ähnlich sind

  • Übelkeit
  • Erbrechen
  • Durchfall
  • Bauchschmerzen oder -krämpfe
  • Aufgeblähter Bauch

… die mit dem Gleichgewichtssinn zusammenhängen

  • Gleichgewichtsstörungen
  • Drehschwindel, Benommenheit
  • Katergefühl
  • Schwankender Gang, verschlechterte Koordination
  • “Seekrankheit”

Sensorische Missempfindungen

  • Taubheit, Brennen oder Kribbeln
  • stromschlagartige Empfindungen im Gehirn und Körper
  • Tinnitus (Ohrgeräusche)
  • Abnormaler Geruchs- und Geschmackssinn

andere

  • Kopfschmerzen
  • Tremor
  • Vermehrter Speichelfluss
  • Undeutliche Aussprache
  • Unscharfes Sehvermögen
  • Muskelkrämpfe, Steife, Zuckungen
  • “Restless legs” – unruhige Beine
  • Unkontrollierbares Mundzucken

(Quelle: M.D. Joseph Glenmullen „The Antidepressant Solution“)

Für alle Interessierten gibt es hier eine englischsprachige Liste, die noch umfangreicher und detaillierter ist: Symptomliste.

Das Konsil für evidenzbasierte Psychiatrie spricht bei Eintreten einer Absetzproblematik von einer durchschnittlichen Dauer von 6 bis 18 Monaten.

Und von einem positiven Endresultat bei den meisten Betroffenen, selbst nach vielen Monaten (oder Jahren).

Es ist essentiell, passende Unterstützungsmöglichkeiten zu finden, denn es geht natürlich nicht darum, monatelang zu leiden und nichts dagegen zu unternehmen.

Ich hoffe, der Artikel spricht Personen an, die verzweifelt sind, intuitiv spüren, dass ihre Probleme durch den Entzug der Medikamente bedingt sind und sich missverstanden oder “abgestempelt” fühlen.

Zitat Schopenhauer


 

Comments

  1. Elisa says

    Vielen lieben Dank für diese sehr gute Zusammenfassung und vor allem die darin enthaltene Ermutigung!

    Es tut unsagbar gut, dass es auch immer mehr Fachleute gibt, wo ein echtes Ernstnehmen der Symptome, ein kritisches Prüfen der üblichen Sichtweisen und ein reales Umdenken stattfinden.

    Alle Ärzte und Therapeuten, die mich bisher (seit einem 3/4 Jahr) beurteilt haben, haben ins selbe Horn gestoßen – der Druck in Richtung erneute AD-Einnahme ist enorm – und das macht alles nur noch schlimmer, v.a. wenn man eh schon durch die schwer erträgliche Situation zutiefst verängstigt und verunsichert ist.

    Daher bin ich umso dankbarer für jede – besonders fachliche – Unterstützung auf dem für mich richtigen Weg.

    • Freigeist says

      Liebe Elisa!
      Ich freue mich ganz besonders über dein Kommentar, da mein Blog “erst 2 Monate alt ist” und ich hoffe, meinen Lesern Mut machen zu können – mit vielen Hintergrundinformationen und Alternativen.
      Ich finde es sehr bedenklich, dass AD von einigen Experten immer noch als nebenwirkungsarm und ungefährlich betrachtet werden bzw. die Probleme beim Entzug von AD oft unterschätzt werden. Hier wird sich in den nächsten Jahren sicherlich einiges ändern, jedoch bleiben im Moment viele Patienten in einer so schwierigen Lage hilflos zurück.
      Die Symptome nach einem solchen Medikamentenentzug können laut Experten (Konsil für Evidenzbasierte Psychiatrie zum Beispiel) manchmal bis zu zwei Jahren anhalten.
      Ich hoffe, dass du in dieser schwierigen Zeit Unterstützung findest, durchhältst und die Hoffnung nicht verlierst.
      Meiner Meinung nach sind Personen, die solche Erfahrungen machen müssen und nach und nach alternative Wege finden, um gesund zu werden, die tapfersten und stärksten Personen!
      Lg Moni

      • Karin says

        Hallo,
        ich hänge jetzt seit 31 Monaten,also über zweieinhalb Jahre, im protrahierten Entzug von
        SSRI .
        Kann also auch länger dauern,ich weiß nicht wie lange es noch geht…….
        Es gibt immer wieder kleine Verbesserungen,aber auch Abstürze.
        Ich habe zu schnell abgesetzt( ca 3 Monate).Mein Arzt meinte,da wären wir,mit 3 Monaten
        ausschleichen,auf der sicheren Seite !
        SSRIs würden nicht abhängig machen !
        Man fühlt sich ausgeliefert und alleine,in einem Körpergefängnis.

        Wir brauchen Unterstützung und Verständnis !
        Und wir brauchen Hoffnung.

        Gut,dass es mal eine deutschsprachige Seite gibt. Danke dafür!
        Die besten Infos fand ich bislang nur auf englischsprachigen Seiten.
        LG
        Karin

        • Freigeist says

          Liebe Karin! Danke, dass du das anbringst. Ja, leider kann es auch noch länger dauern, von diesem Phänomen habe ich auf englischsprachigen Seiten ebenfalls gelesen. Wie lange ein solcher protrahierter Entzug dauert ist komplett individuell: Jedes Gehirn ist so einzigartig wie ein Fingerabdruck. Und jeder Mensch hat eine andere Vorgeschichte, einen anderen Körper, ein anderes Umfeld… Es wäre sicherlich leichter zu ertragen, wenn man wüsste, wann es aufhören wird.
          Du musst eine starke Persönlichkeit sein, da du schon so lange in diesem Körpergefängnis (anschaulich beschrieben!) bist, bitte vergiss nie darauf.
          Ich hoffe, du findest Wege, auch in dieser schweren Zeit zurecht zu kommen.
          Kennst du schon das ADFD Forum (dort tauschen sich Betroffene zu diesem Thema aus) bzw. das englische Buch “How to be sick”?
          Über das Buch werde ich in Zukunft noch schreiben, meiner Meinung nach steckt viel Hoffnung darin und es richtet sich an chronisch kranke Personen.
          Ich schicke dir viel Kraft!
          Und danke für die wichtige Info, dass ein Ausschleichen über drei Monate in vielen Fällen noch immer zu schnell ist – auch dieses Thema möchte ich in Zukunft anschneiden!

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