Selbst, wenn du nur einen kleinen Stein ins Wasser wirfst, veränderst du das ganze Meer.“
Liebe Leser!
Die Forschungsinitiative der Ludwig Boltzmann Gesellschaft geht in die zweite Runde.
Es handelt sich dabei, um eine Umfrage zu dem Thema:
Welche Fragen im Bereich psychische Erkrankungen soll die Wissenschaft Ihrer Meinung nach aufgreifen?
Ich habe hier bereits darüber berichtet und einen Vorschlag eingereicht: Das Thema sicherer Umgang mit Psychopharmaka, vor allem mit den modernen Antidepressiva (SSRI) und die Erforschung von Absetzproblemen.
Vorgeschlagene Forschungsfragen: Wie kann man diese Tabletten risikoarm absetzen und was sind Folgen eines jahrelangen Langzeitkonsums?
Nun wurden sieben große Themencluster aus den 400 eingereichten Vorschlägen herausgearbeitet.
Psychopharmaka sind mit dabei! Das bedeutet, dass dieses Thema viele Menschen beschäftigt und es viele als potentielles Forschungsthema eingereicht haben.
Ich muss sagen, dass auch alle anderen Themen spannend sind und deren Erforschung vielen Betroffenen helfen würde.
Nun könnt ihr euch selbst ein Bild machen.
7 Themenbereiche, die am häufigsten eingereicht wurden
1) Psychische Resilienz
Wie kann die psychische Widerstandsfähigkeit (Resilienz) von Kindern wie Erwachsenen gestärkt werden, damit diese auch unter starker Belastung gesund bleiben?
Schon jedes Kind erlebt belastende Momente und schwierige Phasen.
Ein hohes Lebenstempo, neue Medien und (dadurch) veränderte soziale Beziehungs- und Wertestrukturen: Der Druck ist groβ – die Gefahr, psychisch zu erkranken, ebenso.
Was kann getan werden, um die psychische Widerstandsfähigkeit schon im Kindesalter zu stärken?
Wie kann ein Mensch mit extremen psychischen Belastungen umgehen, ohne krank zu werden?
Mögliche Forschungsfragen:
● Wie wirken sich spezifische Einflussfaktoren (z.B. Lebensstil, Konsumverhalten oder Medienkonsum) auf unsere psychische Gesundheit aus?
● Was müssen Familie und Schule tun (konkrete Maβnahmen), um die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen zu erhalten bzw. psychische Erkrankungen früh zu erkennen?
● Wie kann die psychische Widerstandsfähigkeit traumatisierter und extrem belasteter Menschen hergestellt und gestärkt werden?
Zitate von Betroffenen
„Eltern und LehrerInnen brauchen dringend Wissen und Kenntnisse darüber, wie sie Kinder und Jugendliche auf Belastungen vorbereiten können. Wir brauchen gezielte Maβnahmen, die Kinder und Jugendliche vor psychischen Erkrankungen bewahren!“
„Im täglichen Umgang mit psychisch Erkrankten sind vor allem Familienmitglieder, aber auch Gesundheits- und Krankenpflegende, massiv gefordert, vielfach gelangen sie an ihre persönlichen Grenzen. Wichtig ist, dass diese Menschen gesund bleiben.“
„Wie wirkt sich die Erkrankung meines Kindes auf mich aus, und was kann ich tun, damit nicht auch ich erkranke?“
2) Präzisere Diagnosen
Wie kann die Diagnostik psychischer Erkrankungen optimiert werden, sodass Fehldiagnosen auszuschlieβen sind?
Die Grenzen zwischen Gesundheit und Krankheit der Psyche sind unscharf.
Anders als bei physischen Krankheiten ist es (meist) unmöglich, biologische Marker oder klare Aktivierungsmuster des Gehirns nachzuweisen.
Diagnosen können mehrdeutig sein. Manchmal schlagen sie fehl.
Die Erforschung von Biomarkern, wie Blutwerten, Hormonspiegel oder Gehirnströmen, kann zu präziserer Diagnostik führen.
Aber auch die Anamnese selbst kann optimiert werden. Wie sollen Angehörige und medizinische Fachkräfte (z.B. die Hausärztin/der Hausarzt) einbezogen werden, damit Diagnosen zuverlässiger sind.
Es kamen aber auch Fragen zur überprüfung und Aktualisierung bestehender Diagnosen und zum Fehlen von Gesundungsdiagnosen.
Mögliche Forschungsfragen:
● Was kann die Entscheidungsgrundlagen in der Diagnostik psychischer Krankheiten optimieren, sodass jede Diagnose möglichst zuverlässig ist?
● Wie können psychische Erkrankungen eindeutig nachgewiesen werden?
● Wie kann verhindert werden, dass Symptome nach Absetzen von Psychopharmaka zu Fehldiagnosen führen?
● Wann ist man von einer psychischen Krankheit geheilt? Wie ist die Genesung definiert? Wie lautet die Diagnose dazu?
Zitate von Betroffenen
„Es ist einfach, eine Diagnose zu bekommen, wenn es einem schlecht geht, aber es ist fast unmöglich, sie wieder loszuwerden. Dasselbe gilt für das Stigma psychischer Erkrankung.“
3) Psychosomatik
Wie hängen Körper und Psyche zusammen? Wie zeigt sich dieser Zusammenhang im Fall psychischer Erkrankung?
Viele Beiträge haben die Wechselwirkung zwischen psychischer und physischer Gesundheit / Krankheit zum Inhalt.
Ist der Körper die Bühne, auf der sich die Seele inszeniert?
Oder folgt die Psyche dem Körper in die Krankheit?
Stehen Verdauungssystem (Stoffwechsel) und Psyche in Verbindung?
Lassen frühzeitig auftretende Alterserscheinungen, Atemprobleme, Rückenschmerzen etc. auf psychische Erkrankung schlieβen?
Hängt veränderte Schmerzwahrnehmung an einer psychischen Krankheit?
Sind extreme Essgewohnheiten Ausdruck einer Belastung der Seele?
Mögliche Forschungsfragen:
- In welchem Zusammenhang stehen psychische Gesundheit und körperliche Beschwerden und wie beeinflussen sie sich gegenseitig?
- Welchen Zusammenhang gibt es zwischen dem Verdauungssystem und psychischen Erkrankungen?
- Wie hängen psychische Erkrankungen, körperliche Schmerzen und Erschöpfungszustände zusammen?
- Lassen psychische Erkrankungen den Körper früher altern?
Zitate von Betroffenen
„Rückenschmerzen, Tinnitus, dauernde Erschöpfung: Welche Therapie für die Psyche ist möglich, damit die körperliche Belastung endlich verschwindet?“
„Mir ist unklar, ob und wie sich ein gestörter Stoffwechsel auf die psychische Gesundheit auswirkt. Kann es zu psychischen Erkrankungen kommen, wenn der Körper nicht richtig mit Nährstoffen versorgt wird?“
4) Psychopharmaka
Wie kann der Einsatz von Psychopharmaka verbessert werden?
Psychopharmaka sind bei bestimmten psychischen Erkrankungen in manchen Phasen unerlässlich.
Viele Menschen stehen Psychopharmaka jedoch kritisch gegenüber – wegen der Nebenwirkungen und wegen der Gefahr der Abhängigkeit.
Die richtige Absetzstrategie fehlt oft.
Entzugserscheinungen, wie Panikattacken, Schlaflosigkeit und Erbrechen, machen den Genesenden das Leben schwer – auch noch lange, nachdem Präparate abgesetzt wurden.
Was hilft in dieser Phase?
Eltern, deren Kindern Psychopharmaka verschrieben wurden, sind besonders verunsichert.
Werden Psychopharmaka leichtfertig verschrieben?
Warum sind die Auswirkungen von Mehrfachmedikationen nicht besser erforscht?
Wer etwa Antidepressiva und Neuroleptika einnimmt, muss mit solchen Wechselwirkungen rechnen.
Wie und ab wann kommen PatientInnen weg von Psychopharmaka?
Alternativen zur Behandlung mit Psychopharmaka sind nicht ausreichend vorhanden oder fehlen ganz.
Dabei wäre der Bedarf daran riesig!
Mögliche Forschungsfragen:
- Wie kann der Umgang mit Psychopharmaka verantwortungsvoller gestaltet werden (etwa durch bessere Aufklärung über Neben- und Folgewirkungen)?
- Wie können Nebenwirkungen von Psychopharmaka minimiert werden?
- Wie kann man die Wechselwirkung von Wirkstoffen besser in den Griff bekommen?
- Welche Langzeitfolgen hat die (dauernde) Einnahme von Psychopharmaka vor allem bei Kindern?
- Wie kann die Patientin/der Patient die Absetz- bzw. Entzugssymptome von Psychopharmaka überstehen?
Zitate von Betroffenen
„Ich habe den Eindruck, dass Psychopharmaka viel zu leichtfertig verschrieben werden. Wenn ich gewusst hätte, was auf mich zukommt, hätte ich mich gegen die Therapie mit Psychopharmaka entschieden.“
„Mir ist völlig unklar, nach welchen Kriterien die Medikation bei psychisch kranken Menschen erfolgt.“
5) Neuartige und alternative Therapien
Welche neuartigen Therapien können derzeitige Behandlungsmethoden ersetzen/ergänzen?
Was dem einen gut tut, verfehlt beim anderen seine Wirkung.
Dies gilt auch für Menschen mit psychischen Erkrankungen.
Nur wer hinsichtlich seiner Bedürfnisse und körperlichen Voraussetzungen richtig versorgt wird, hat Chancen auf Verbesserung.
Neue, differenziertere Therapien und Behandlungsformen sind daher dringend notwendig.
In zahlreichen Beiträgen wurden konkrete Anliegen und Fragen formuliert:
Warum gibt es Menschen, bei denen Psychotherapie auch nach Jahren nicht anschlägt?
Warum hilft ein Medikament dem einen aus seiner Krankheit und bleibt bei dem anderen wirkungslos?
Warum ist jemand resistent gegen manche Wirkstoffe?
Wie beeinflussen körperliche und psychische Voraussetzungen die Wirksamkeit einer Therapie?
Mögliche Forschungsfragen:
- Welche Zusammenhänge bestehen zwischen der psychisch-physischen Disposition einer Patientin/eines Patienten und der Wirksamkeit der Therapie?
- Kann die Berücksichtigung traumatischer Kindheitserlebnisse den Therapieerfolg positiv beeinflussen und den Heilungsprozess optimieren?
- Schwerpunkt Psychose: Wie können Ereignisse, die Betroffene während einer akuten psychotischen Phasen erleben, in der Therapie besser berücksichtigt werden?
- Schwerpunkt Psychose: Lässt sich eine psychotische Phase frühzeitig beeinflussen, sodass Ausmaβ und Dauer minimiert werden?
Zitate von Betroffenen
„Psychopharmaka zeigen nicht bei allen PatientInnen die gleiche Wirkung. Wie kann es sein, dass es bei einem Medikament so viele unterschiedliche Reaktionen und Wirkungsgrade gibt?“
6) Versorgungsstruktur
Welche Strukturen muss die Gesellschaft schaffen, damit psychisch Kranke in ihrem Genesungsprozess optimal unterstützt werden?
Wer psychisch krank ist, braucht rasche Hilfe: effizient, erschwinglich, unbürokratisch.
Die Versorgungsstruktur – stationär, teilstationär, ambulant – sollte dies leisten.
Wie muss das Umfeld einer Patientin /eines Patienten gestaltet sein, damit die Genesung möglich ist?
Welcher Angebote bedarf es? Wie kann Bestehendes verbessert werden?
Nicht nur das klinische Umfeld, sondern auch Familie und Freunde sind für psychisch Erkrankte wichtige Begleiter.
Laien, Peer- und Selbsthilfegruppen helfen den Betroffenen, die oft (noch) kein Fachwissen über ihre Krankheit haben. Wie können diese in die Therapie involviert werden?
Wer ins Berufsleben zurückkehrt, braucht besondere Unterstützung.
Es wurde darauf hingewiesen, dass psychisch Erkrankte oft nicht mehr ihrer Qualifikation gemäβ arbeiten können.
Viele bleiben mit der Diagnose einer psychischen Erkrankung vom Erwerbsleben überhaupt ausgeschlossen.
Dabei ist gerade sinnstiftende Arbeit mit geregeltem Alltag förderlich für die Heilung mancher psychischer Erkrankungen.
Mögliche Forschungsfragen:
● Wie ist ein optimales klinisches Genesungsumfeld zu gestalten?
● Wie kann eine wertschätzende, empathische Beziehung zwischen PatientInnen und medizinischem Fachpersonal geschaffen werden?
● Wie können auβerfamiliäre Betreuung (Laien, Peers, Selbsthilfegruppen) den Weg zur Genesung unterstützen?
● Wo können Betroffene leistbare und unkomplizierte Hilfe finden? (Welche Akuthilfe, Hotlines, stationäre und teilstationäre Behandlung, etc. gibt es?)
● Wie können psychisch erkrankte Menschen ihren Fähigkeiten gemäβ (wieder) qualifizierte Arbeit leisten und in den Arbeitsprozess (re)integriert werden?
Zitate von Betroffenen
„Betroffene akzeptieren die Hilfe von ehemals Betroffenen (Peers) eher als die Hilfe von PflegerInnen. Ein ehemals Betroffener gibt ihnen das Gefühl, dass es einen Weg aus der Erkrankung gibt und sie können in gewissen Situationen für den Erkrankten mehr Verständnis aufbringen, da sie oftmals eine ähnliche Krankheitsgeschichte hinter sich haben.“
„Arbeit ist sinnstiftend und ermöglicht psychisch Erkrankten, am sozialen Leben teilzuhaben. Aktuell ist dies leider für viele Betroffene nicht möglich. Viele PatientInnen wollen zurück in ein geregeltes Berufsleben, der Krankheitszustand würde eine regelmäβige Erwerbstätigkeit auch ermöglichen. Leider fehlen dazu die notwendigen flexiblen Arbeitszeitmodelle!“
7) Entstigmatisierung
Was bedeutet es für psychisch Kranke, stigmatisiert zu sein? Wie wirkt sich das Stigma auf den Krankheitsverlauf aus?
Nicht nur fehlende Gleichstellung, sondern eine Fülle an Hürden im Alltag: Das sind die Folgen des Stigmas „psychisch krank“.
Körperlich Kranken wird viel mehr Akzeptanz entgegengebracht als psychisch Kranken.
Sogar innerhalb der Familie ist es schwer, über die psychische Erkrankung zu sprechen.
Wegen der Stigmatisierung gehen Betroffene oft zu spät zum Arzt.
Dadurch kann eine Behandlung/Genesung verzögert einsetzen – mit allen Folgen.
Der Grad der Stigmatisierung psychischer Erkrankungen differenziert etwa zwischen bipolaren Störungen (stark) oder posttraumatischem Belastungssyndrom (schwach).
Entsprechend schwer fällt es erkrankten Menschen, ihre Diagnose zu akzeptieren.
Mögliche Forschungsfragen:
- Wie wirkt sich Stigmatisierung auf psychisch Kranke bzw. deren Krankheitsverlauf aus?
- Welche Diagnosen führen zu welchen Stigmata?
- Wie kann die Gesellschaft zum Thema Stigmatisierung sensibilisiert werden?
Zitate von Betroffenen
„Die Bevölkerung muss über psychische Erkrankungen informiert werden. Es muss das Bewusstsein geschaffen werden, dass jede und jeder daran erkranken kann!“
„Auch Angehörige werden stigmatisiert – ich hoffe also, dass psychische Erkrankungen eines Tages nicht mehr als ‚persönliche Schwäche‘ wahrgenommen werden. Aktuell sind wir davon noch weit entfernt.“
Quelle: Reden Sie mit!
Nun ist es bis Sonntag, den 18.10.2015 möglich für zwei Themen zu voten.
Hier kannst du abstimmen: VOTING
Aktualisiert: Die Abstimmung ist beendet. Das Thema Psychopharmaka hat die meisten Stimmen erhalten!
Und hier ein offener Brief, da sich die Fachjury gegen die Erforschung von Psychopharmaka entschieden hat.
Welches Thema dich am meisten? Ich freue mich über Kommentare.
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