Gastbeitrag von Gerrit
Ärzte sind historisch die angesehenste Berufsgruppe.
Götter in Weiß.
Patienten haben die Erwartung, dass der Arzt jedes Problem lösen kann.
Dieses Image bringt jedoch Gefahren mit sich.
Es führt dazu, dass Patienten die Verantwortung für ihre Gesundheit an den Arzt abgeben. Der Arzt ist derjenige, der Krankheiten für den Patienten heilen soll. Das ist jedoch in vielen Fällen eine Sisyphosaufgabe. Aufgrund unserer immer unnatürlicher lebenden Gesellschaft und längeren Lebenszeit, machen Zivilisationskrankheiten einen rasch wachsenden Anteil der Patienten in Arztpraxen aus. Eine häufige Gemeinsamkeit dieser Patienten: es gibt keine magische Pille, welche das Problem löst. Stattdessen müssen Auslöser im Alltag gefunden und abgestellt werden.
Die Behandlung von Zivilisationskrankheiten kann für einen Arzt schwierig sein. Die Gesundheitssysteme in den meisten westlichen Ländern sind extrem überlastet und stehen kurz vor der Explosion. Jedoch benötigen gerade Zivilisationskrankheiten viel Zeit in der Behandlung. Auslöser im Alltag müssen gefunden werden, sowie ein Kompromiss zwischen Gesundheit und gewünschtem Lebensstil gefunden werden. Die nötige akribische Analyse erfordert viel Zeit. Das ist Zeit, die Arztpraxen selten da ist – zu viele Patienten kommen auf zu wenige praktizierende Ärzte.
Die Folge: ein Patient, der umfangreiche Hilfe beim Arzt sucht, wird oft enttäuscht. Er fühlt sich im Stich gelassen. Wenn ein gesundheitliches Problem starke Einschränkungen für die Lebensqualität bedeutet, sacken viele Betroffene in Passivität und schließlich Depression ab. Sie warten darauf, dass ihnen jemand hilft, anstatt sich selbst zu helfen. Sie denken, sie haben nicht die Kompetenz, um ihre Gesundheit selbst in die Hand zu nehmen.
Die Realität des heutigen Gesundheitssystems ist: Ärzte können nicht mehr die alleinige Verantwortung für die Behandlung ihrer Patienten übernehmen. Dazu fehlt ihnen die Zeit. Patienten müssen selbst Initiative ergreifen. Notwendig dazu ist jedoch Wissen. An diesem Punkt setzt das Konzept von Patient Empowerment an – zu Deutsch: Patientenermächtigung. Dieser Ansatz hilft Patienten, ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen. Patient Empowerment ist ein hilfreicher Ansatz, um Depressivität aufgrund chronischer Gesundheitsprobleme zu vermeiden.
Anleitung zur Hoffnungslosigkeit
Lass uns das ganze an einem konkreten Beispiel ansehen. Ich schreibe viel über Reflux. Auf Refluxgate.de geht es insbesondere um eine spezielle Art von Reflux in die Atemwege. Die geläufige deutsche Bezeichnung ist Stiller Reflux. Wenn Reflux in die Speiseröhre gelangt, erzeugt er einen sehr typischen Schmerz: Sodbrennen. In den Atemwegen sind die Anzeichen weniger deutlich. Typische Symptome von Reflux in den Atemwegen sind Heiserkeit, chronischer Husten und Asthma. Jemand der eigene Initiative ergreift, hat sehr gute Chancen, die Krankheit erfolgreich zu behandeln. Für einen Arzt ist die Krankheit jedoch schwierig zu diagnostizieren – und noch schwieriger zu behandeln. Die Folge: manche Betroffene sacken in Hoffnungslosigkeit und Depression ab.
Viele Refluxpatienten, welche in Depressionen abrutschen, zeigen ein typisches Verhaltensmuster. Hier ein erfundenes, aber typisches Beispiel:
Mark ist Realschullehrer und hat seit Jahren mit schlimmer werdender Heiserkeit zu kämpfen. Anfangs wurde er nur nach besonders redeintensiven Tagen heiser. Mittlerweile jedoch, bringt ihn bereits eine normale Schulstunde an die Belastungsgrenze. Er hat Angst, dass er berufsunfähig wird, wenn das Problem so weiter geht.
Mark war bereits bei etlichen Hals-, Nasen-, und Ohrenärzten. Entweder wurde er nicht ernst genommen, als Simulant dargestellt, oder das Problem wurde auf Allergien geschoben. Alle Allergietests waren aber negativ, und die Medikamente gegen Allergie haben auch nicht geholfen.
Mark wird immer verzweifelter. Irgendwann findet er einen Arzt, der ihm sagt, dass sein Problem von Reflux kommen kann. Der Arzt führt die notwendigen Tests durch und tatsächlich: es handelt sich um Reflux. Mark ist zunächst begeistert: endlich hat das Kind einen Namen. Nun kann er die richtigen Medikamente bekommen, und das Problem ist gelöst. Der Arzt verschreibt Mark einen Säureblocker, welcher die Säureproduktion des Magens senken soll. Der Arzt sagt Mark, dass das Problem bald weg sein sollte.
Nach einigen Wochen ist das Problem jedoch nicht besser. Mark wird nach wie vor heiser. Zusätzlich fühlt er sich nun von den Medikamenten unwohl im Magen. Er geht zurück zum Arzt. Der sagt Mark, dass er die Säureblocker nun für ein halbes Jahr nehmen soll, da Refluxschäden in den Atemwegen lange zum Verheilen brauchen können. Außerdem soll Mark fettiges Essen meiden.
Mark hält sich an die Empfehlung. Die Heiserkeit wird nicht mehr schlimmer, aber auch nicht besser. Mark fühlt sich nach wie vor stark eingeschränkt auf der Arbeit. Privat läuft es auch nicht besser. Mark zieht sich aus seinem Freundeskreis zurück. Nach der Arbeit ist die Stimme einfach so kaputt, dass Gespräche mit Freunden keinen Spaß machen. Reden in einer lauten Kneipe oder in einem Club geht erst recht nicht.
Nach einigen Monaten geht Mark wieder zum Arzt, weil die Probleme einfach nicht besser werden. Der Arzt empfiehlt, weiter die Medikamente zu nehmen und abzuwarten. Jedoch macht der Arzt den Eindruck, als ob er mittlerweile genervt von Mark ist. Das wiederum nervt Mark, da er nicht das Gefühl hat, der Arzt will ihm wirklich helfen.
Mit der Zeit verliert Mark die Hoffnung, dass sein Problem irgendwann nochmal besser wird. Negative Stimmung macht sich breit. Mark verbringt immer mehr Zeit daheim alleine vor dem Fernseher mit Chips und Cola. Das verschlimmert Marks Reflux noch mehr. Mittlerweile gesellt sich zur Heiserkeit auch Asthma beim Sport, weswegen er auch seltener Joggen geht. Trotzdem kommt Mark nicht von Süßkram und Knabbereien abends vor dem Fernseher los. Nachdem er sich durch einen langen Tag voller Probleme mit seiner Heiserkeit geschleppt hat, braucht Mark einfach etwas, was ihn aufheitert. Jedoch ist Mark sich bewusst, dass er in einen Teufelskreis gerät. Dieser Gedanke treibt seine Hoffnungslosigkeit nur weiter an …
Werde selbst zum Experten
OK, das obige zu schreiben bringt mich selbst schon in depressive Stimmung.
Jedoch ist das Beispiel tatsächlich typisch für einen Teil der Patienten mit Atemwegsreflux.
Was macht der andere Teil? Er informiert sich, testet verschiedene Sachen und probiert solange neue Ansätze aus, bis sich das Problem bessert. Das heißt nicht, dass die Probleme sofort auf wundersame Weise weggehen. Viele Betroffene müssen Monate oder Jahre daran arbeiten und haben immer wieder Rückfälle, wenn sie in negative Ernährungsweisen zurückrutschen. Sie haben aber selten das Problem mit Hoffnungslosigkeit, das Mark hat. Und wenn, dann weniger ausgeprägt. Dadurch, dass sie sich aktiv mit Behandlungsmöglichkeiten auseinandersetzen, bekommen sie immer wieder vor Augen geführt, wie viele Ansätze sie noch nicht ausprobiert haben. Sie wissen, dass sie einfach nur die richtige Lösung für ihr Problem finden müssen. Zudem befinden wir uns gerade in einer Zeit, in der Biotechnologie einen Boom erlebt. Neue innovative Start-Ups schießen überall wie Pilze aus dem Boden, welche an Lösungen für Krankheiten arbeiten. Selbst wenn einem für ein Problem die Behandlungsalternativen ausgehen würden – für fast jedes Problem gibt es neue Methoden in Entwicklung.
Wenn Mark aus dem Beispiel sich aktiv mit seiner Krankheit befasst hätte, hätte er viele Ansätze gefunden, um sich selbst zu helfen. Zudem hätte er herausgefunden, dass das Medikament was er bekam, gar nicht helfen konnte. Das Verschreiben eines Säureblockers ist zwar typisch bei Reflux in die Atemwege. Jedoch zeigen Studien, dass diese Medikamente nicht besser als Placebo bei dieser Art von Reflux sind. In den Atemwegen ist Säure nur ein kleiner Teil des Problems. Magenenzyme spielen die größere Rolle, gegen welche Säureblocker nicht helfen. Dummerweise sind die meisten Ärzte bei Atemwegsreflux (bisher) schlecht informiert, da diese Form von Reflux erst seit kurzem Beachtung in der Forschung findet.
Das ist nicht ungewöhnlich. Kein Arzt hat die Zeit, stets auf dem aktuellen Stand der Forschung zu sein und gleichzeitig noch Patienten zu behandeln. Ärzte müssen bei ihrer Fortbildung Prioritäten setzen.
Zudem ist Reflux eine durch Ernährung verursachte Krankheit – und so muss er auch behandelt werden. Ein Arzt ist kein Diätberater – im Medizinstudium findet Ernährung kaum Erwähnung. Viele Patienten wissen das nicht. Sie denken, der Arzt würde es ihnen schon sagen, wenn sie ganz konkrete Dinge in der Ernährung ändern müssten.
Ergreife die Macht über deine Gesundheit
Wenn du nur eine Idee aus diesem Artikel mitnimmst, dann sollte es die Folgende sein:
Nutze Fachpersonen (z.B. Ärzte) für Ihr Expertenwissen. Aber lade nicht die gesamte Verantwortung für deine Gesundheit bei Ihnen ab. Du wirst enttäuscht werden. Viele Gesundheitsprobleme sind durch die eigene Lebensweise verursacht. Oft ist man selbst der Einzige, der nachhaltige Änderungen umsetzen kann. Der beste Schutz gegen Hoffnungslosigkeit und Depressionen durch Gesundheitsproblemen, ist selbst zum Experten seines eigenen Problems zu werden. Nimm dein Schicksal in die eigene Hand.
Wenn dein primäres Problem Depression ist, fühlst du dich von diesem Artikel vielleicht etwas veralbert, da ich Depressionen vereinfacht darstelle. Bitte versteh mich nicht falsch, ich will dein Problem nicht herunterspielen. Mir geht es mit diesem Artikel primär um Menschen, deren Depression ein Nebenprodukt, nicht das Hauptproblem ist.
Trotzdem hat Patientenermächtigung für jede Krankheit positive Auswirkung. Wie genau man ans gewünschte Ziel kommt, kann sich aber unterscheiden. In jedem Fall ist es hilfreich, zum Advokat deiner eigenen Gesundheit zu werden.
Über den Autor:
Gerrit bloggt sowohl auf Deutsch, als auch auf Englisch zu Gesundheitsthemen. Seine Herzensangelegenheit ist Patient Empowerment. Das heißt Menschen dabei zu helfen, durch Informationen mehr Einfluss auf ihre eigene Gesundheit nehmen zu können.
Homepage: Refluxgate
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