Viele Menschen, die jeden Tag Psychopharmaka nehmen, spüren, dass ihnen die Medikamente nicht helfen. Aber sie haben verlernt, auf ihre innere Stimme zu hören. „Was der Arzt mir erklärt, kann ja nicht falsch sein“ – so das häufig gehörte Fazit der Menschen, die zum ersten Mal vor mir sitzen.
Empirisch belegt sind immer nur die sedierenden oder stimulierenden Wirkungen sowie natürlich die Nebenwirkungen – aber keine Heilung.
Mit der Hoffnung auf die Wirkung von Pillen geben Menschen gerne ihre eigene Verantwortung ab – doch vor allem bei den Psychopharmaka ist die Kluft zwischen erhofften Wirkungen und tatsächlicher Wirksamkeit besonders groß. Sie sollen einem alles Mögliche ersparen: Die Beantwortung persönlicher Fragen, die Änderung unproduktiver Lebensgewohnheiten oder Verhaltensmuster, die Kommunikation mit Lebenspartnern oder Kindern, die Konfrontation mit einem tiefen emotionalen Problem.
Psychopharmaka sind verlockend. Sie versprechen Heilung ohne Anstrengung und Konflikte. Die Einnahme führt angeblich schnell zu Ergebnissen.
Die Realität der Medikamenteneinnahme ist in der Regel schmerzhafter als der Weg einer Psychotherapie. Auf den Konsumenten warten nicht nur teilweise schwere Nebenwirkungen.
Unbewältigte psychische Probleme, die mit den Tabletten übertüncht wurden, treten irgendwann vielleicht in schlimmerer Form wieder auf und ziehen auch körperliche Krankheiten nach sich.“
(Ausschnitte aus dem Buch Die sedierte Gesellschaft)
Interview mit Diplom-Psychologin Dr. Lena Kornyeyeva
Liebe Frau Kornyeyeva, Sie sind Autorin des Buches „Die Sedierte Gesellschaft: Wie Ritalin, Antidepressiva und Aufputschmittel uns zu Sklaven der Leistungsgesellschaft machen“. Worum geht es in Ihrem Buch?
Heute wird vielen Menschen eingeredet, dass sie ihre Schwierigkeiten im Leben nur mit Medikamenten in den Griff bekommen können – mit Psychopharmaka.
Ich erkläre den Lesern, dass Psychopharmaka tatsächlich kein einziges Problem lösen, dass sie Kranke kränker und Gesunde erst krank machen und dass sie die innere Freiheit, die eine Voraussetzung für ein gutes Leben ist, einschränken oder gar ruinieren.
Wer sich überfordert fühlt, wer unter Stress leidet, der kann diese Schwierigkeiten mit seiner Vernunft lösen. Er muss zu einem angemessenen Umgang mit den eigenen Kapazitäten zurück finden.
Im Buch geht es darum, wie sich ein gesellschaftlicher Trend entwickelt hat, nach dem das Denken zunehmend ausgelagert wird. Auch um die breiteren gesellschaftlichen Folgen dieser Pathologisierung und „Pharmaindoktrinierung“, darum, wie die übertriebene Idee der höhen Leistung einen subtilen, aber enormen und ungesunden Druck erzeugt und das Denken und Verhalten der Menschen steuert.
Ein Großteil der Psychologen (und anderer Experten im Gesundheitsbereich) beschäftigt sich leider noch nicht ausreichend mit den negativen Aspekten von Psychopharmaka. Woher kam Ihre Motivation, zu diesem Thema zu recherchieren und ein Buch darüber zu schreiben?
Ich erlebe fast täglich Menschen, die gelernt haben, sich mehr auf die „Autoritäten“ zu verlassen, als auf sich selbst. Menschen haben verlernt, der eigenen, naturgegebenen Kompetenz zu trauen – und so lassen sie sich steuern und beeinflussen. So merken sie auch nicht, dass sie krank werden.
Bei zu vielen Menschen (Kindern und Erwachsenen) wird heute zu schnell eine psychische Auffälligkeit diagnostiziert.
Eine chronische Überforderung wird dann als „Burn Out“ oder Depression beschrieben, eine etwas länger als gewöhnlich andauernde Trauerzeit nach dem Verlust eines Partners wird zu einer Depression.
Ich frage meine Patienten, die einfach eine Erholung und Regeneration nach zu viel Arbeit brauchen: „Wer hat Ihnen die Diagnose „Depression“ gestellt?“, und sie sagen: „Mein Arzt hat mir gesagt, dass ich depressiv bin und mir Tabletten verschrieben“.
Doch kein Patient hat mir in den zurückliegenden Jahren gesagt, dass ihm Psychopharmaka geholfen haben; viele haben mir hingegen von schlimmen Nebenwirkungen berichtet.
Jeden Tag motiviert mich die Erkenntnis, dass Menschen ohne chemische Mittel besser leben können.
Um gesund und zufrieden zu bleiben, sollten sie lernen, bewusst zum eigenen Ich zurückzukehren, sie sollten die eigene Kompetenz für die eigene Gesundheit entdecken und pflegen.
Als Diplom-Psychologin arbeiten Sie mit Menschen zusammen, die sich in persönlichen Krisen befinden. Würden Sie (aus Ihrem fachlichen Alltag betrachtet) sagen, dass es möglich ist, Alternativen zu Psychopharmaka zu finden?
Natürlich gibt es Alternativen zu Mitteln, welche die Menschen nur kränker machen.
Nur lassen sich keine allgemein gültigen Rezepte geben.
Jeder Mensch ist anders und jeder Mensch verlangt nach eigenen, individuellen Lösungswegen in seiner individuellen Situation – gerade deswegen macht es Sinn, zu einem guten Psychologen zu gehen und individuelle Lösungen zu erarbeiten.
Wenn es dem Einzelnen gelingt, die Prioritäten für das eigene Leben zu definieren, wenn es ihm gelingt, angemessen und liebevoll mit sich selbst umzugehen, wenn es gelingt, Liebe zu geben und zu nehmen – dann kann jeder Einzelne gesund und glücklich leben.
In einem Audio-Interview habe ich gehört, dass Sie von erschreckenden Fallbeispielen aus Ihrer Praxis erzählen. Können Sie meinen Lesern ein Beispiel nennen?
Ich könnte tatsächlich von vielen, auch erschreckenden, Fällen berichten.
Patienten bekommen Schlafmittel verschrieben und wissen nicht, was sie nehmen, welche Konsequenzen das für ihre Gesundheit hat, dass sie abhängig werden – der Arzt hatte sie nicht aufgeklärt.
Andere entwickeln suizidale Neigungen, nachdem sie ein angeblich harmloses Antidepressivum verschrieben bekommen hatten; sie wissen manchmal nicht, wie ihnen geschieht.
Andere verlieren Angehörige, die sich nach der Einnahme von Tabletten umgebracht haben – ich bekomme Leserbriefe mit solchen Geschichten.
Eine persönliche Frage zum Schluss: Wieso sind Sie Psychologin geworden?
Seit meiner Kindheit interessiere ich mich für das Verhalten und für die Beweggründe der Menschen.
Wieso kann oder will nicht jeder Mensch glücklich sein?
Wieso können manche nicht ohne Konflikt und Streit leben?
Diese Frage hat sich später zum Thema meiner empirischen Forschung entwickelt. Die Lektüre von Tolstoi oder Dostojewski hat mich schon während meiner Schulzeit zur Überzeugung gebracht, dass das Interessanteste und das „Unendlichste“ im Leben der Mensch ist.
Ich habe kürzlich eine Umfrage auf dem Blog durchgeführt und verschiedene Personen gefragt: Was tust du für deine psychische Ausgeglichenheit? Vielleicht möchten Sie ja mitmachen und diese Frage auch beantworten?
Ich kommuniziere mit Menschen, die mir gut tun.
In meinem Privatleben und auch in meinem Beruf vermeide ich ganz bewusst für mich uninteressante Dinge.
Und ich bekomme gute Rückmeldungen und Dankbarkeit für meine berufliche Tätigkeit, das freut mich immer.
Darüber hinaus habe ich gelernt – das mag jetzt eigenartig klingen – gelegentlich einmal nichts zu tun. Das Nichtstun ist meine Methode, um meine Gedanken klarer werden zu lassen und meine innere Integrität zu bewahren.
Ich erlaube mir, ich selbst zu bleiben.
Vielen Dank für das Interview!
Gewinnspiel
Dieses Gewinnspiel ist bereits beendet. Herzlichen Glückwunsch an Ingrid!
Dr. Kornyeyeva hat sich bereit erklärt, ein Exemplar Ihres Buches für ein Gewinnspiel bereitzustellen.
Teilnahme am Gewinnspiel: Bitte beantworte folgende Frage: Wieso möchtest du das Buch gewinnen?
Die Antwort kannst du gerne in das Kommentarfeld schreiben, ansonsten an: [email protected] (eine kurze Antwort genügt)
Das Gewinnspiel läuft bis Montag, den 27. Juli 2015.
Die Details (Datenschutz) findest du bei den allgemeinen Gewinnspiel-Richtlinien von My Free Mind.
Interviewpartnerin:
Dr. Lena Kornyeyeva Diplom-Psychologin Berufsverband Deutscher Psychologen
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Ein richtig interessantes Interview! Sehr aufschlussreich – jedoch macht es mich schon sehr nachdenklich. Ärzte verschreiben viel zu schnell Psychopharmaka. Als meine Tochter über einen längeren Zeitraum Kopfschmerzen hatte, wurden ihr auch diese Tabletten verschrieben.
Lieber Winfried! Danke für das Feedback. Ich habe mich gefreut, Dr. Kornyeyeva interviewen zu können, da sie in ihrer beruflichen Tätigkeit täglich mit dieser Thematik bzw. mit Patienten konfrontiert ist.
Dein angeführtes Beispiel ist genau das, was ich kritisiere: Zu schnelle und zu breite Verschreibungen – Psychopharmaka gegen Kopfschmerzen statt psychischer Probleme. Selbst wenn die Kopfschmerzen psychisch bedingt sein sollten, gibt es so viele alternative Handlungsweisen!
Ich hoffe, deiner Tochter geht es inzwischen besser.
Lg, Moni
Ich sehe auch, das viele Psychopharmaka viel zu schnell verschrieben werden. Es sollte verboten werden das ein Erstrezept von einem Hausarzt ausgestellt werden darf. Das sollten nur Psychiater oder Neurologen machen… Ich würde nie ein Psychopharmaka nehmen, wenn es von meinem Hausarzt erstmalig ausgestellt wurde, ohne Rücksprache mit einem Facharzt.
Da ich eine mittelschwere Depression hatte, ging ich 10 Wochen in eine Klinik und machte eine Psychotherapie.
Ich habe viele Verhaltensmuster in meinem Leben geändert und auch viel Schmerz erfahren. Die Therapie kostete viel Kraft, aber es lohnte sich für mich auf ganzer Linie. Und das…. alles ohne Psychopharmaka!!!
Leider bekam ich acht Monate nach der Therapie erstmalig in meinem Leben eine Psychose.. Schizoaffektive Störung war die Diagnose….!
Da kam ich um ein Neuroleptikum nicht herum… ich musste sie nehmen… Außerdem stellte sich danach eine postpsychotische Depression über Monate ein. Auch sie konnte nur mit einem Antidepressiva behandelt werden… ich bin froh, das es diese Medikamente gibt… sonst könnte ich diesen Text nicht mehr schreiben… ich hätte Suizid begangen…!
Es gibt Erkrankungen bei denen es sehr wichtig ist, das diese Medikamente zur Verfügung stehen…!
Man sollte sie nicht ganz verteufeln…!
Liebe Sabine!
Schön, dass du deine Erfahrungen hier teilst!
Es gibt sicher viele Menschen, die das so sehen wie du, auch viele die eben sagen: Ohne Tabletten hätte ich es nicht geschafft. Deswegen sehe ich mich absolut nicht als „Anti-Psychopharmaka“ Blog.
Leider gibt es in dem Bereich aber einfach nach wie vor viele Schwierigkeiten und zu wenig Aufklärung. Damit meine ich, eine zu schnelle Verschreibung (genau wie du es beschreibst ), eine zu hohe Dosierung, eine zu lange Einnahmedauer – gerade das ist ein heikler Punkt.
Leider gibt es (noch) kein komplett nebenwirkungsfreies Medikament, das für den jahrelangen Gebrauch geeignet wäre. Für viele sind Psychopharmaka eine Stütze, ein Auffangen in schweren Zeiten –dafür wurden sie auch getestet und entwickelt.
Eine Langzeiteinnahme (wie sie heute oft stattfindet) wurde kaum untersucht, dabei berichten viele Betroffene von gesundheitlichen Problemen: Angefangen von Gewichtszunahme und sexuellen Störungen über hormonelle Veränderungen bis hin zu Diabetes und anderen Erkrankungen. Mir geht es darum, auch über die Schattenseiten aufzuklären. Auch darüber, dass es Absetzsymptome gibt und wie man damit umgehen kann.
Mein Ideal (das natürlich finanziell umsetzbar sein müsste und es bis heute nicht ist) wären ganzheitliche Kliniken, in denen man in einer Krise aufgefangen wird und die sich aus verschiedenen Therapieformen, Sport- und Bewegungstherapien, Natur, spirituellen Elementen und Yoga, der Ernährung(!) und anderem zusammensetzen. Außerdem eine individuell passende Umgebung bzw. einen passenden Lebensstil. Dies ist in der heutigen Gesellschaft wiederum oft nicht umsetzbar: Alle müssen funktionieren, für eine monatelange intensive „Kur“ oder Auszeit ist kein Platz.
Psychische Probleme entstehen nicht von heute auf morgen – deswegen braucht es auch Zeit, Geduld und Kraft, um gesund zu werden.
Ich möchte mit dem Blog aber aufzeigen, dass es möglich ist und vor allem, dass es Alternativen gibt.
Denn über die sprechen nicht so viele Experten wie über die medikamentösen Möglichkeiten!
Liebe Grüße, Moni
Höchst interessanter Artikel bzw. Interview. Ich sehe das auch so. Das ist doch nur noch Geldmacherei. Dabei sind konservative Methoden viel gesünder für den Menschen. Aber es ist ja leider so: Geld regiert die Welt. Traurig.
Und doch kann jeder etwas beisteuern, um die Welt ein wenig besser zu machen!
