Dieser Beitrag wurde mit der Unterstützung zweier ehemaliger Betroffener eines „Antidepressiva-Absetzsyndroms" sowie Recherchen in den Foren ADFD und Surviving Antidepressants erstellt.
Überempfindlichkeit nach dem Absetzen von Psychopharmaka
Ein Phänomen, das während und nach dem Absetzen von Psychopharmaka auftreten kann, ist die sogenannte Hypersensibilität.
Es war, als wäre ich von meiner Umgebung nicht mehr abgegrenzt. Die Sonne blendete mich so sehr, dass meine Augen tränten. Beim Mittagessen im Restaurant konnte ich mich nicht auf meinen Gesprächspartner konzentrieren, da alle Gespräche von den Nebentischen so laut hörbar waren. Und ich hatte einige Allergie-ähnliche Reaktionen, die ich nie zuvor gehabt habe. Ich brach auch ständig in Tränen aus.“ (Zitat einer Betroffenen)
Es handelt sich um eine plötzlich auftretende Überempfindlichkeit gegenüber verschiedener Umweltreize: Licht, Gerüchen, Lärm oder schnellen Bewegungen.
Aber auch Unverträglichkeiten von Medikamenten, Vitaminpräparaten, Hitze (praller Sonne oder Sauna) und vielen anderen Faktoren (siehe „Warnhinweise für Personen, die Psychopharmaka ausschleichen oder vor Kurzem abgesetzt haben“ am Ende des Artikels: 50 Hausmittel gegen Depression und Angst).
Sonnenstrahlung kann übrigens auch für Personen, die Medikamente einnehmen, zu einem heiklen Thema werden: Einigen Patienten wird leider nicht erklärt, dass viele Antidepressiva und Antipsychotika zu einer Lichtüberempfindlichkeit der Haut führen können. Man erkennt dies an Hautreaktionen, die einem Sonnenbrand ähneln.
Du kannst dem Beipackzettel deines Medikamentes entnehmen, ob es eine „photosensitive Reaktion“ auslöst. Wenn dem so ist, solltest du dich eher im Schatten aufhalten beziehungsweise vorsichtig mit der prallen Mittagssonne umgehen und nicht auf Sonnenschutz verzichten.
Ich habe zusammen mit meinem kleinen Team (den direkt Betroffenen) und durch die oben angeführten Recherchen folgende leicht umsetzbare Methoden für eine solche Lebensphase herausgearbeitet.
11 Tipps für überempfindliche Lebensphasen
1) Zieh dich zurück und gönn dir den Rückzug, wenn du spürst, dass dein Körper im Moment mehr Erholung braucht – vergleiche dich nicht mit anderen und verurteile dich nicht dafür. Es geht vielen anderen genau wie dir!
2) Wenn es dir nicht möglich ist, dich zurück zu ziehen (zum Beispiel am Arbeitsplatz), kannst du versuchen, dich eine kurze Zeit lang nur auf deinen Atem zu konzentrieren oder auf die Bäume und das Grün vor deinem Fenster. Auf diese Weise kannst du lernen, einen Rückzugsort in dir selbst zu finden. Gönn dir regelmäßig kleine Auszeiten, um Kraft zu tanken.
3) Probier Yoga, Meditation, Visualisierung, progressive Muskelentspannung oder andere Entspannungstechniken aus, um dich weniger überfordert zu fühlen und aktiv etwas für dich zu tun.
4) Probier aus, was dir gut tut: Zum Beispiel ein Spaziergang in der Natur, Malen, Stricken, Lesen, Singen, ein Bad nehmen.
5) Nimm deine eigene Intuition (also dein Bauchgefühl) ernst. Man spürt oft im Vorhinein, was man wirklich braucht und was zu viel sein könnte.
6) Achte deine persönlichen Bedürfnisse nach Ruhe und schäm dich nicht dafür. Lerne Nein zu sagen und dich abzugrenzen. Wahre Freunde werden deine Bedürfnisse akzeptieren (lernen).
7) Achte auf genügend Schlaf und eine Ernährungsform, die deinen Körper nicht belastet: Richtig ernähren bei Hochsensibilität.
8) Lerne mit Hilfe eines Therapeuten, Coaches oder auch Buches, dich selbst richtig einzuschätzen. Versuche, nicht zu selbstkritisch zu sein und verliere die positiven Aspekte deines Lebens nicht aus den Augen, auch wenn das Negative im Moment überwiegt.
9) Meide den Kontakt zu Menschen, die dich anstrengen oder dich nicht so annehmen können, wie du bist. Wenn dich ein Treffen mit Schuldgefühlen und Scham zurücklässt, solltest du das nicht ignorieren.
10) Vermeide große Menschenansammlungen und laute Veranstaltungen, wie Festivals oder Diskotheken.
11) Wenn du Medikamente einnehmen musst, achte auf eine niedrige Dosierung oder auf Naturmedizin (Produkte auf pflanzlicher Basis). Probier vorsichtig aus, was du verträgst.
Im Umgang mit Ärzten gilt Ähnliches wie für Psychotherapeuten.
Es kann äußerst wichtig sein, sorgsam zu wählen.
Informieren Sie alle Ärzte, mit denen Sie zu tun haben, dass Sie vermutlich besonders stark auf Medikamente reagieren.
Leider wird von vielen Schulmedizinern beim Finden der rechten Dosierung eine speziell für hochempfindliche Menschen ungünstige Methode verwendet: Zuerst wird sehr hoch dosiert, um zu sehen, ob es das Medikament ist, auf das Sie ansprechen.
Nebenwirkungen können im Falle einer Überempfindlichkeit besonders gravierend und unangenehm ausfallen: Tagelange Übelkeit und Kopfschmerzen zählen dabei noch zu den harmloseren Dingen.
Erzählen Sie Ihrem Arzt davon. Wenn er Sie nicht ausreden lässt oder Sie in Ihrem Anliegen nicht ernst nimmt, ist es wahrscheinlich nicht der richtige Arzt für Sie.
Während der Beruf des Heilers ursprünglich besonders geeignet für sensible Personen war, so sind in modernen Zeiten immer weniger Ärzte hochempfindlich.
Der Grund dafür liegt wohl im heutzutage mit dem Studium verbundenen Stress, den 48-Stunden-Diensten der jungen Spitalsärzte und ähnlichen Rahmenbedingungen, denen wenige Hochsensible gewachsen sind.
Es gibt glücklicherweise Ausnahmen, doch für viele Ärzte ist ihr Beruf im Alltag weniger die Kunst des einfühlsamen Heilers, sondern Massenabfertigung und Schadensbegrenzung.
Immer häufiger kommt es zu einer geringeren Trefferquote bei Diagnosen, denn dafür braucht es genau das Feingefühl, den Blick für Details und eine nahezu intuitive Kombinationsfähigkeit – Eigenschaften, die sehr vielen Hochsensiblen in die Wiege gelegt wurden.“
(Auszug aus dem Buch Zart Besaitet, einen Link zum Buch findest du am Ende dieses Artikels)
Histaminunverträglichkeit
Eine Betroffene erzählte mir, dass sie seit dem Absetzen ihrer Medikamente (einem SSRI und einem Beruhigungsmittel) Nahrungsmittelunverträglichkeiten entwickelt habe, allen voran eine Histaminunverträglichkeit.
Der Grund liegt daran, dass Psychopharmaka einen ähnlichen Effekt auf den Körper haben wie Antihistaminika (sie haben Einfluss auf die Histaminrezeptoren im Gehirn und blockieren überempfindliche Reaktionen).
Zu diesem Thema gibt es unter Betroffenen viel Austausch: Histamin-Intoleranz im Entzug.
Mehr Informationen über Histaminintoleranz findest du hier: Schweizerische Interessengemeinschaft Histamin-Intoleranz (SIGHI).
Erst zwei Jahre nach der Einnahme ihrer letzten Tablette hätte sie langsam wieder alle Lebensmittel essen können.
Ich werde in Zukunft einen weiteren Blogbeitrag über Nahrungsmittelunverträglichkeiten im Allgemeinen verfassen, da diese oft mit psychischen Erkrankungen verwechselt werden.
Hochsensibilität
Der Begriff Hochsensibilität wurde von Dr. Elaine Aron (Psychologieprofessorin, Forscherin und Psychotherapeutin) begründet und bezeichnet keine pathologische Erkrankung, es handelt sich viel mehr um eine Persönlichkeitseigenschaft, welche 15-20% der Bevölkerung betreffen soll.
Mögliche Anzeichen für Hochsensibilität sind unter anderem:
- Wenn man an anstrengenden Tagen ein starkes Rückzugsbedürfnis hat und sich am liebsten in sein Bett oder einen abgedunkelten Raum verkriechen möchte.
- Wenn man sich von intensiven Reizen schnell überwältigt fühlt (grelles Licht, starke Gerüche, ein kratziger Pullover, das Martinshorn beziehungsweise die Sirene eines Krankenwagens, einfahrende Züge am Bahnhof).
- Wenn man sehr empfänglich für die Stimmungen anderer Menschen ist.
- Wenn man sich in Beziehungen dem anderen stärker verbunden fühlt, als es umgekehrt der Fall ist.
- Wenn man sich von Kunst, Musik oder der Natur tief bewegt fühlt.
- Wenn man sehr viele Details und Feinheiten bemerkt, zum Beispiel beim Hören von Musik, Betrachten von Kunst oder auch beim Essen.
- Wenn man großen Wert auf seine Träume und die Trauminhalte legt.
Es erfordert viel Fingerspitzengefühl und reichliche Überlegungen, damit es zu keiner Fehldiagnose zwischen Hochsensibilität, Angststörungen und Introversion kommt.
Sowohl Hochsensibilität, als auch Introversion stellen keine Krankheit dar.
Es sind Persönlichkeitseigenschaften, die Betroffene vor viele Herausforderungen stellen, aber auch zahlreiche Vorteile mit sich bringen (wie eine gute Beobachtungsgabe, Einfühlungsvermögen oder analytisches Talent).
Wenn man sich als hochsensible oder introvertierte Person mit seinen Schwächen und Eigenheiten auseinandersetzt und seine Stärken entdeckt, kann man ein beschwerdefreies und glückliches Leben führen.
Bei manchen Personen stellt sich außerdem die Frage: Was war zuerst da?
Wurden die Medikamente verschrieben, da die Person sensibler gegenüber Umweltreizen gewesen ist und diesem Druck auf Dauer nicht standhalten konnte?
Kommt es oft vor, dass das Phänomen der Überempfindlichkeit nach dem Absetzen von Psychopharmaka auftaucht, um ein paar Monate/ Jahre später wieder zu verschwinden?
All diese Anzeichen treten auch bei Angstzuständen oder Panikattacken auf. Deshalb werden hochsensible Menschen sehr schnell psychotherapeutisch oder medikamentös behandelt, da den meisten Heilbehandlern und Therapeuten diese Veranlagung nicht bekannt ist. Oder schlichtweg Hochsensitivität als mögliche Ursache dieser Symptome nicht anerkannt wird.
Dies bringt dich noch mehr in Distanz und Rückzug und lässt dieses ungute Gefühl in dir wachsen, dass mit dir etwas nicht stimmt oder in Ordnung sei.“
(weiterlesen: Was genau ist Hochsensibilität – und was nicht!)
Unabhängig von der Ursache, ist es hilfreich, sich als Betroffener über Hochsensibilität zu informieren, um diese (vorübergehende oder dauerhafte) Empfindlichkeit besser akzeptieren und vor allem besser damit umgehen zu können.
Englischsprachig kann ich euch den Blog von Kelly empfehlen, dort findet ihr viele Texte und Audiodateien zu dem Thema: A Higly Sensitive Person’s Life.
Deutschsprachig findet ihr hier viele Informationen:
- Zart besaitet – Verein zur Förderung hochsensibler Menschen + gratis Test
- Open Mind Akademie: Potenzialentfaltung bei Hochsensibilität
Buchtipps:
- Zart besaitet: Selbstverständnis, Selbstachtung und Selbsthilfe für hochsensible Menschen von Georg Parlow
- Sind Sie hochsensibel? Ein praktisches Handbuch für hochsensible Menschen (Arbeitsbuch) von Dr. Elaine Aron
Ich freue mich über Kommentare!
Hallo,
diese Histaminintoleranz habe ich jetzt seit fast 4 Jahren (nach zu schnellem Absetzen von
SSRI),ich kann nur noch sehr eingeschränkt essen und vertrage praktisch keine NEMs
und Medikamente.
Ich bin seit fast 4 Jahren im protrahierten Entzug.Leider liest man doch recht wenig über
solch langen Verläufe,zumindest auf deutschsprachigen Seiten.
Je länger das dauert,desto weniger glaubt man an eine vollständige Heilung.
So ein Entzug kann Existenzen zerstören.Ich wäre nicht in der Lage arbeiten zu gehen.
Ob meine Ehe noch zu retten ist weiß ich nicht.
Aber es gab auch schon Verbesserungen,leider gibt es immer wieder Einbrüche und ich hatte
in der ganzen Zeit keinen einzigen normalen Tag.
Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf,man liest auch immer wieder von Betroffenen,die nach
6 oder 7 Jahren wieder gesund waren,incl. Histaminintoleranz.
ADFD ist ein sehr wichtiges Forum für Betroffene.
Danke auch für diese Seite hier !!!!!!!
LG
Eva
Liebe Eva, Danke für deinen Erfahrungsbericht. Ja, protrahierte (also sehr lange) Absetzsymptome haben einen Einfluss auf das gesamte Leben und werfen aus der Bahn. Ähnlich wie andere große Lebenskrisen oder schwere bzw. chronische Erkrankungen, ist danach oft vieles nicht mehr so, wie es davor war. Gleichzeitig ist es auch eine Chance, neu anzufangen, doch natürlich muss man zu so einem Zeitpunkt bereits symptomfrei sein. Eine ehemalige Betroffene aus meinem Umfeld (durch ihre Geschichte und meine jahrelange Mitarbeit in einer Psychiatrie wurde ich zum Gründen dieses Blog motiviert) hat mir berichtet, dass man nach einem langen Absetzverlauf dankbarer wird – für die kleinen Dinge, für symptomfreie Tage, den Zauber der Jahreszeiten, Freunde, die geblieben sind und glücklicher durch Kleinigkeiten, die man zuvor nicht auf diese Art und Weise schätzen konnte.
Welchen Gedanken ich persönlich hilfreich finde ist: Sich nicht zu fragen, ob es noch Absetzsymptome sind oder nicht (Angst und Zweifel), sondern sich darauf zu konzentrieren – egal was die Symptome hervorruft – wie man am besten mit ihnen umgehen kann und wie man sie reduzieren/mildern kann. Und das in kleinen Schritten. Ich möchte in Zukunft auch mehr Erfolgsgeschichten veröffentlichen – vor allem auch solche, bei denen es nach langer Zeit zu einer Besserung kam. Ich wünsche dir weiterhin viel Kraft und vergiss nicht: Du bist (leider) absolut nicht alleine mit diesem Problem. Das kann ich aus einer Vielzahl an Leserpost berichten. Lg, Moni